BRANDSCHUTZ – FACH­IN­FOR­MA­TIO­NEN FÜR PROFIS

Artikel

Vor Gericht in Nürnberg: War Fassadenabriss aus Brandschutzgründen rechtswidrig?

Neuselsbrunn ist nicht gerade Nürnbergs bekannteste Wohnlage. Die Siedlung im Süden der Stadt wird dominiert von fünf 60 Meter hohen Wohnhäusern mit 20 Etagen, deren Baujahr über 50 Jahre zurückliegt.

Um sie hat sich ein gerichtlicher Brandschutz-Fall entfacht, dessen Entwicklung überregional Beachtung findet und der in seinen Ergebnissen sicherlich auf Entscheidungen andernorts einwirken wird. Ausgangspunkt des massiven Rechtsstreits um einen Fassadenabriss aus Brandschutzgründen war ein verheerender Hochhausbrand in London.

Der Brand des Grenfell Tower

Am 14. Juni 2017 brach vermutlich wegen eines defekten Kühlschranks im Londoner Grenfell Tower das Inferno aus. Die Bewohner des 24-stöckigen Hochhauses hatten von den Behörden die übliche, aber in diesem Fall verhängnisvolle Anweisung erhalten, in ihren Wohnungen zu bleiben – was sich unter den gegebenen Umständen als schwerer Fehler herausstellte. Damals starben 72 Menschen. Europas Brandschutzexperten und Stadtverwaltungen waren alarmiert: Ein weitere Katastrophe dieses Ausmaßes musste unbedingt verhindert werden.

Es begann die Suche nach Schwachstellen und neuen Sicherheitsoptionen in anderen Hochhäusern. Und die fand man in Nürnberg-Neuselsbrunn in den Fassaden. Denn ein Untersuchungsbericht der britischen Regierung hatte zutage gefördert, dass die Fassadenverkleidung des Grenfell Tower nicht den Brandschutzanforderungen entsprach und auch keinerlei Tests unterzogen worden war. Daraus zog die Stadt Nürnberg 2018 Konsequenzen und ordnete in einer Art fränkischen „Fukushima Situation“ kurzerhand den Abriss der Hochhausfassaden in Neuselsbrunn an. In deren Wärmedämmung sollen sich brennbare Materialien befunden haben.

Horrende Kosten für die Wohnungseigentümer

Daraus hat sich inzwischen ein veritabler Rechtsfall entwickelt, der Wellen schlägt. Knapp 400 Wohnungseigentümer der Hochhäuser sind gegen die Vonovia Immobilien Treuhand GmbH vor Gericht gezogen, die seinerzeit als Hausverwalterin fungierte. Die Eigentümer beklagen, in die Abrissentscheidung nicht ausreichend einbezogen worden zu sein. Es hätten unzureichende Informationen vorgelegen. Die Maßnahme sei auch ohne ihren Beschluss erfolgt. Sie äußern zudem Zweifel an der Aussagekraft eines Materialgutachtens über die angeblich brandgefährlichen Baustoffe in der Fassade.

Nach deren Abriss hatte sich in den ungedämmten Wohnungen mit Einbruch der kalten Jahreszeit Schimmel ausgebreitet. Der Heizaufwand war gestiegen. Vor allem: Die Erneuerung der Fassade schlug bei den Wohnungseigentümern jeweils mit 40000 bis 50000 Euro zu Buche. Einzelne Eigentümer berichten, dass sie für die Sanierung und Schimmelbekämpfung 70000 Euro zahlen mussten. Durch die Presse gingen Fälle von Bewohnern, die einen Kredit aufnehmen mussten oder im hohen Alter vor dem finanziellen Ruin stehen. Nun wollen sich diese Eigentümer insgesamt 15,7 Millionen Euro auf dem Rechtsweg zurückholen.

Hausverwaltung angeblich in Drucksituation

Im Oktober 2021 kam es zu einem ersten Gerichtstermin. Wegen des großen Andrangs hatte die Justiz die Auftaktverhandlung eigens im Großen Saal der Nürnberger Meistersingerhalle angesetzt. Dort beteuerten Vertreter der Vonovia, keine andere Möglichkeit als den schnellen Fassadenabriss gehabt zu haben. Ihr Anwalt ließ sich in den Medien mit dem Satz zitieren: „Wir standen vor der Wahl, Fassade runter oder Räumung durch die Stadt. Es war eine Stress-Situation.“ Offenbar hatte die Venovia bereits Notunterkünfte suchen lassen. Nach eigener Darstellung oblag es ihr als Hausverwaltung nicht, ein Brandschutzgutachten zu beurteilen. Die Stadt Nürnberg habe jedenfalls unmissverständlich mit der Räumung der Hochhäuser gedroht.

Der Hintergrund: Im Zuge der Planung für eine Feuerwehrzufahrt vor 2018 ließ die Hausverwaltung prüfen, in welche Feuerwiderstandsklassen die Baumaterialien der Außenfassaden einzuordnen seien. Sie muss damals den Verdacht gehabt haben, dass es damit nicht zum Besten bestellt sei. Für ein Ergebnis, das später zum Abriss aller Fassaden führte, war aber nur eine Materialprobe aus einem der Hochhäuser von einem Prüfinstitut untersucht worden. Diese sei ausschlaggebend gewesen – für die klagenden Eigentümer ein keineswegs hinlänglich ausreichendes Prüfergebnis.

Gutachten sollen Klarheit bringen

Die Kläger sind ohnehin skeptisch über den beschriebenen Entscheidungsnotstand der Hausverwaltung. Das Gericht machte deutlich: „Hätte die Fassade brennen können oder nicht und wer beweist das?“ Im Dezember 2021 hat es daher den Beginn der Beweisaufnahme angekündigt. Gutachten sollen nun klären, ob und in welchem Umfang der Venovia eine Pflichtverletzung vorzuwerfen ist. Da diese nach Gerichtsauffassung die Beweislast zu tragen hat, muss sie für deren Kosten aufkommen.

Zurück